Die USA und der Mythos vom puren Kapitalismus

Die USA und der Mythos vom puren Kapitalismus
Photo by Alec Favale / Unsplash

In Europa hält sich hartnäckig das Vorurteil, die Vereinigten Staaten seien ein Land des ungezügelten Kapitalismus, in dem es keinen Wohlfahrtsstaat gebe und jeder auf sich allein gestellt sei. Dieses Bild war vielleicht vor vielen Jahrzehnten einmal zutreffend, doch heute ist es falsch.

Wer die Zahlen nüchtern betrachtet, erkennt: Die USA sind längst ein gigantischer, ineffizienter Umverteilungsstaat, dessen Komplexität selbst europäischen Sozialbürokratien Konkurrenz macht. Und dieser Umverteilungsstaat erzeugt paradoxe Effekte, die die amerikanische Mittelschicht systematisch entmutigen.


1. Die Realität: Ein versteckter Wohlfahrtsstaat

In den USA existieren rund 100 landesweite Transferprogramme, die jeweils mehr als 100 Millionen Dollar pro Jahr kosten. Hinzu kommen zahlreiche Programme der Bundesstaaten und Kommunen.

Das Ergebnis ist kein schlanker Staat, sondern ein unüberschaubares Geflecht aus Leistungen, Zuschüssen und Steuern, bei dem selbst Fachleute kaum die Gesamteffekte erfassen können.

Die Analyse von Phil Gramm, Robert Ekelund und John Early in "The Myth of American Inequality" zeigt: Der US-Wohlfahrtsstaat ist nicht klein, sondern riesig. Er ist nur schlecht organisiert und dadurch für Außenstehende unsichtbar.


2. Wenn Arbeit sich nicht mehr lohnt

Die vielleicht überraschendste Erkenntnis: Die untersten 20 Prozent der amerikanischen Haushalte verfügen pro Kopf über mehr verfügbares Einkommen als die arbeitende Mittelschicht.

Die Daten zeigen:

  • Unterstes Quintil: über zehn Prozent mehr verfügbares Einkommen als das zweite Quintil
  • Unterstes Quintil: sogar drei Prozent mehr als der typische Mittelschicht-Haushalt

Eine Familie, in der beide Eltern arbeiten, hat netto also kaum Vorteile gegenüber einer Familie, in der niemand arbeitet. Das ist ein gravierender Fehlanreiz mit langfristigen gesellschaftlichen Folgen.


3. Wer das System finanziert

Während die unteren Einkommensgruppen durch ein dichtes Netz an Leistungen abgesichert werden, tragen die oberen 20 Prozent fast das gesamte System.

  • Durchschnittseinkommen des obersten Quintils: rund 296000 Dollar
  • Steuerzahlung: rund 107000 Dollar
  • Steuerquote: über ein Drittel des Einkommens

Die oberen 20 Prozent bezahlen mehr als 60 Prozent der gesamten Einkommensteuern und sogar 83 Prozent der federal income tax.

Das widerspricht dem gängigen europäischen Narrativ, in den USA würden Besserverdiener kaum Steuern zahlen.


4. Der gescheiterte War on Poverty

Seit Mitte der 1960er Jahre führen die USA den sogenannten War on Poverty. Die Programme wurden immer größer, doch der Erfolg blieb aus.

Die Armut fiel zwischen 1940 und 1964 kontinuierlich von 32.1 auf 14.7 Prozent.
Seit Beginn der massiven Sozialprogramme stagniert sie nahezu auf demselben Niveau.

Das deutet klar darauf hin: Fehlanreize halten Menschen in Armut, nicht fehlende Mittel.


5. Wer wirklich profitiert

Vom bestehenden System profitieren vor allem jene, die es verwalten: Politiker und Bürokratien. Der Staat nimmt seinen Bürgern Geld ab, verteilt es selektiv wieder aus und präsentiert sich im Anschluss als großzügiger Wohltäter.

So entsteht ein Kreislauf aus Abhängigkeiten, politischer Klientelpflege und wachsender Bürokratie – ohne nachhaltigen Nutzen für die Gesellschaft.


Fazit

Der Mythos vom ungezügelten amerikanischen Kapitalismus hält sich in Europa nur deshalb so hartnäckig, weil das US-Sozialsystem zersplittert und schwer durchschaubar ist. Die nüchternen Daten zeigen:

Die USA sind kein Land des reinen Marktes. Sie sind ein politisierter Transferstaat, der Besserverdiener stark belastet, die Mittelschicht entmutigt und die Armut nicht senken konnte.

Das Problem ist nicht zu wenig Sozialstaat, sondern zu viel – nur schlecht organisiert.